Kannst du dich noch an deine ersten Exerzitien erinnern?
Hildegard Aepli*: Ich habe Theologie in Luzern studiert und dachte, ich finde da, was ich suche. Irgendwann habe ich gemerkt: Das ist Futter für den Kopf – auch gut, aber nicht das, wonach ich mich sehne: nach einem inneren, persönlichen Weg mit Gott. Also habe ich bei den Helferinnen-Schwestern im Haus Bruchmatt meine ersten Exerzitien gemacht.
Wie sehen deine persönlichen Exerzitien heute aus?
Über die Exerzitien sowie die Exerzitien im Alltag habe ich über die Jahre zu einer Gebetspraxis gefunden, die ich jeden Tag ausübe. Exerzitien in Gruppen leite ich an, nehme aber selbst nicht mehr daran teil. Ich persönlich gehe jedes Jahr eine Woche an einen spirituellen Ort und nehme dort an den Gebetszeiten der Gemeinschaft vor Ort teil.
Exerzitien – und „im Alltag“. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Exerzitien heisst üben. Etwas einüben, das macht man auch sonst im Alltag, sei es beim Joggen, Yoga oder Fasten. Die Exerzitien im Alltag entspringen einem Wunsch, den religiöse Menschen irgendwann empfinden: Sie wollen eine Regelmässigkeit in ihrer Beziehung zu Gott, im Gebet finden. Exerzitien im Alltag begleiten diesen Wunsch.
Was erfährst du bei Exerzitien im Alltag?
Innerhalb einer Gruppe erfahre ich, dass ich keine Exotin bin, die auf der Suche nach irgendeinem Trip ist, sondern dass es Leute mit einer ähnlichen Sehnsucht gibt. Das bestärkt und unterstützt! Die Gruppentreffen helfen, dass man sich mit den Übungen ‚einen Schupf gibt’. Der Austausch motiviert, die Exerzitien wirklich zu machen – wie überall beim Üben!
Die sogenannten Ignatianischen Exerzitien gehen zurück auf Ignatius von Loyola, den Gründer der Jesuiten. 500 Jahre alte Übungen sind doch alt und nicht mehr aktuell, oder?
In die Jahre gekommen ist seine Sprache, mit der tun wir uns nicht so leicht. Doch was Ignatius von Loyola in seinen Geistlichen Übungen thematisiert, ist spirituelle Pädagogik. Wenn es darum geht, konkretes Handwerk zu vermitteln, ist Ignatius einfach unübertroffen. Davon ist nichts überholt oder veraltet! Es ist ähnlich wie bei der Bibel: Wenn man die Übungen sprachlich für die heutige Zeit übersetzen und übertragen kann, findet man eine differenzierte, weitsichtige, fundierte Anleitung in die christliche Mystik. Diese Übersetzungsarbeit sehe ich als meine Aufgabe, zum Beispiel mit dem Heft für die Grossen Exerzitien im Alltag.
Im Rahmen des Jubiläums 175 Jahre Bistum St.Gallen gibt es erstmals Grosse Exerzitien im Alltag. Warum?
Die dreiwöchigen Exerzitien im Alltag führen wir im ganzen Bistum St.Gallen bereits seit zehn Jahren durch. Im Jubiläumsjahr wagen wir uns an die sogenannten Grossen Exerzitien. Diese orientieren sich an der gesamten spirituellen Pädagogik des Ignatius und sollen die Spannbreite des Kirchenjahres umfassen, von Advent bis Pfingsten. Vier Impulse pro Woche bereiten auf das Evangelium des jeweils kommenden Sonntages vor. Die Idee dahinter ist: Wenn ich am Sonntag in den Gottesdienst gehe, habe ich das Evangelium in mir schon präsent.
Dazu kommt die Gruppenerfahrung: In St.Gallen, in Rapperswil-Jona und an weiteren Orten gibt es ein Mal pro Monat einen halben Tag mit Impulsen und Übungen. Alle Impulse laufen auf die Frage hinaus: Wie kann ich heute mit meinen Möglichkeiten, meinem Wesen, meinem Talent den Weg von Jesus besser mitgehen? Wie kann ich Jesus besser nachfolgen?
Für wen sind die Grossen Exerzitien im Alltag geeignet?
Die Grossen Exerzitien im Alltag eignen sich für Menschen, die sich wünschen, wesentlich zu werden in ihrem Leben, lebendiger, mehr sie selbst, freier und unabhängiger von anderen. Man muss nicht katholisch sein, um bei den Grossen Exerzitien im Alltag mitzumachen, aber bereit dafür sein, sich auf diesen religiösen-spirituellen Weg einzulassen.
Aktuell boomen Yoga-Retreats und Achtsamkeits-Workshops. Wie passen da die Exerzitien dazu?
Wir leben in einer Zeit, wo viele Leute nichts mehr mit „kirchlichem“ Christentum anfangen können. Mit der Exerzitienarbeit und der spirituellen Pädagogik haben wir ein echtes Werkzeug für Spiritualität und Mystik. Wir suchen im Buddhismus oder in der Esoterik, dabei haben wir so einen Schatz in unserer Tradition.
Du sprichst von freier und unabhängiger werden. Das klingt doch auch nach Selbstoptimierung – oder?
Ob man Exerzitien als Selbstoptimierung versteht, hat viel mit der eigenen Persönlichkeit zu tun. Es gibt schon Menschen, die von dieser Idee nicht loskommen, weil sie so gestrickt sind. Bei den Exerzitien geht es um Selbstverwirklichung und Spiritualität, aber eigentlich nicht um Selbstoptimierung. Weil ich an mir schaffe und Gott wirken lasse, kommt es zu mir, wer ich im Tiefsten bin. Das habe schlussendlich nicht ich selbst gemacht, sondern es ist ein Geschenk.
Inwiefern bist du durch Exerzitien «mehr du selbst» geworden?
Ich bin mir selbst gegenüber mehr gelassen. Dazu wächst meine Akzeptanz dem gegenüber, wie ich bin und wie eben nicht. Es ist ein inneres Gefühl von „Ich bin an der Quelle“: Ich bin da, wo es gut ist. Ich bin da, wo ich das bekomme, was ich brauche, was mich lebendig macht.
Vielen Dank für das Gespräch.
*Hildegard Aepli ist Seelsorgerin und Exerzitienleiterin. Im Pastoralamt des Bistums St.Gallen ist sie für die Abteilung Spiritualität und Bildung zuständig.
Grosse Exerzitien im Alltag
Anlässlich „175 Jahre Bistum St.Gallen“ finden Grosse Exerzitien im Alltag statt.
Die Grossen Exerzitien Exerzitien im Alltag sprechen Menschen an, die sich während eines halben Jahres, vom 16. November 2021 bis Pfingsten 2022, auf einen persönlichen Gebetsweg begeben und sich dazu in der Gruppe zu Austausch und Bestärkung treffen.
Infos und Anmeldung für das Bistum St.Gallen.