Am Samstag, 16. Oktober, feierte St. Gallen den Gallustag. Bischof Ivo Fürer sprach in seiner Predigt am Festgottesdienst über das unterwegs sein des heiligen Gallus damals und der Christen heute. Die Predigt im Wortlaut:
"Fast täglich werde ich an den Heiligen Gallus erinnert. Über der Galluskapelle befindet sich die bischöfliche Kapelle. Der Ort wird seit Jahrhunderten verehrt als der Ort, an dem Gallus seine Hütte baute, als er sich in das Steinachtal zurückzog. Hier liegt der Ursprung von St. Gallen, insbesondere der Ursprung der Kirche des Heiligen Gallus. In acht Jahren werden es 1400 Jahre sein, seit Gallus hier sein Einsiedlerleben begonnen hatte. Wir pflegen sein Erbe. Es drängt uns aber auch, ihn zu fragen: Was sagt dein Leben und dein Wirken für uns heute?
Ich stelle mir vor, Gallus würde uns zuerst sagen: Ich war unterwegs.Auch ihr seid unterwegs.
Der junge Gallus trat zuerst in das Kloster Bangor in der Nähe vom heutigen Belfast in Nord-irland ein. Hier lebte er ein äusserst strenges Klosterleben. Er lebte eingewurzelt in seine Heimat. Zusammen mit Kolumban und weiteren Gefährten folgte er schliesslich der Beru-fung: Als Christ bist du unterwegs. Du bist fremd auf dieser Welt. Deshalb verliessen sie das Kloster, um zu erfahren, was es heisst, unterwegs zu sein, nicht in der Heimat, beim Volk zu bleiben, aus dem man geboren ist. Und so zogen sie als Pilger nach Frankreich und zu uns.
Das Vorbild von Kolumban und Gallus, die Heimat war Abraham. Wir haben von ihm in der Lesung gehört. Gott rief Abraham auszuwandern aus der Verwandtschaft und aus dem Va-terhaus „in das Land, das ich dir zeigen werde.“ Er sollte so ein neues Volk Gottes bilden. Abraham wusste nicht, wohin sein Weg geht. Er vertraute darauf, dass Gott ihn führt in eine Zukunft hinein, die ihm nicht bekannt ist.
An die Berufung Abrahams dachte ich oft während der Synode 72, von 1970-1975. Angeregt durch das Zweite Vatikanische Konzil suchten damals die Bistümer der Schweiz ihren Weg in die Zukunft. Als Verantwortlicher für die Vorbereitung und Durchführung in der Schweiz fragte ich mich sehr oft: Wohin wird uns dieses Unternehmen führen? Ich spürte sehr deut-lich, dass wir in einer Zeit stehen, welche in eine unbekannte Zukunft führt, die in Gesell-schaft und Kirche nicht vergleichbar ist mit dem Leben vor 70 oder 80 Jahren.
Seit den 70er-Jahren ist dies noch viel deutlicher geworden, wenn wir zum Beispiel darauf achten, wer heute regelmässig den Sonntagsgottesdienst besucht, was die Kinder und Ju-gendlichen vom Glauben und der Bibel wissen, wie schwer es für junge Menschen ist, sich für einen kirchlichen Beruf zu entscheiden. Die Kirche ist immer unterwegs. Durch viele Jahrhunderte war der Weg gradlinieger, heute pilgern wir wohl in kurvenreichen Gelände, in dem wir nicht sehen können, wohin es weitergeht. Gott hat zu Abraham gesagt, er soll in das Land gehen, das er ihm zeigen werde. Gott hat dem Heiligen Gallus den Weg aus Nordirland hierher gezeigt, obwohl er sicher keine Ahnung vom Steinachtal hatte. Gott begleitet auch uns. Er traut es unserer Generation zu, durch schwierige Zeiten weiterzugehen.
Wir feiern den Heiligen Gallus hier, weil er als Einsiedler an diesen Ort gekommen ist.
Zuerst war der Pilger Gallus auch Missionar. Er zerstörte Götzenbilder und wollte damit beweisen, dass die Macht Gottes durch Jesus Christus grösser ist als die Macht aller Götzen. Er konnte so die Menschen zum Staunen bringen und manche von ihnen bekehren. Aber Gott hat ihn auf einen anderen Weg geführt. In Bregenz konnten Gallus und Kolumban nicht bleiben. Gott hat dem Heiligen Gallus eine Krankheit gegeben, welche ihn hinderte, mit Ko-lumban und seinen Gefährten weiter nach Italien zu pilgern. Er sah sich so berufen, als Ein-siedler hier zu bleiben. Er ist auch, als er wieder gesund war, seinen Gefährten nicht nach Bobbio nachgereist. Seine Berufung war es vielmehr, hier ein geistliches Zentrum zu bauen.
Klause und späteres Kloster hier in St. Gallen wurden zum geistlichen Zentrum. Es hatte seine Ausstrahlung und wies den Menschen den Weg des Glaubens.
Ist es nicht, als ob Gallus uns sagen wollte: Was sich in Jahrhunderten in den Pfarreien fi-xiert hat, hat, wie ihr seht, einen Teil seiner Kraft verloren. Jetzt erinnert euch daran, dass sich der Glaube aus dem Gebet und der Stille heraus entwickelt hat. So werden es auch für die Zukunft geistliche Zentren sein, welche eine wichtige Rolle spielen werden. Wir denken hier einerseits an unsere Klöster und Ordenshäuser in der Diözese. Wir freuen uns darüber, dass neue Bewegungen entstanden sind. Das Milieu und die Strukturen, welche durch lange Zeit fast alle Menschen in unserer Region erfasst haben, sind weitgehend verschwunden. So wird es in Zukunft notwendig sein, dass unsere Pfarreien und Seelsorgeeinheiten durch das Zeugnis eines kleineren Kreises von Menschen, die sich von der frohen Botschaft erfassen lassen, ausstrahlt in die Region. Menschen müssen neu erfahren können, wie grossartig es ist, glauben zu dürfen, wie sehr wir einer bleibenden Heimat entgegengehen, welche mehr ist als wirtschaftlicher Boom und ausgebautes Spitalwesen. Wir müssen versuchen, besser zu leben und auszustrahlen, was es heisst, zu glauben. Menschen sollten neu Lust bekom-men, mehr von der Kirche zu erhalten als Taufe und Beerdigung.
Kolumban und Gallus lebten in der Welt. Sie haben dies auch deutlich gespürt. Sie waren angewiesen auf das Wohlwollen der weltlichen Obrigkeit. Luxeuie und Bregenz mussten sie gezwungenerweise verlassen, weil die zuständigen Könige und Herzoge sie nicht wollten. In St. Gallen war Gallus schliesslich willkommen, erhielt sogar das Gebiet seiner Klause als Eigentum geschenkt. Sein Erbe wurde zum mächtigen Kloster, der Abt gleichzeitig zum Lan-desfürsten.
Heute haben wir oft das Gefühl, dass wir als Kirche hier gar nicht mehr voll zuhause sind. Im Unterschied zu früher interessiert man sich wenig um uns. Das Milieu, welches von der Kir-che stark geprägt wurde, ist nicht mehr. Als glaubende Menschen scheinen wir oft eher Fremde, Unverstandene in unserer Heimat zu sein. Glaube und Bibel sind immer weniger verbindende Elemente. Die Menschen sind anders geworden. Sie suchen aber auch heute Tiefe, den Weg in die Heimat, welche bleibend ist. Wir müssen Wege finden, unseren Glau-ben immer mehr so zu leben, dass er für unsere Mitmenschen anziehend wird. Vertrauen wir darauf, dass Gott uns den Weg in die Zukunft zeigt. Christus ist und bleibt das Haupt der Kirche, würde uns Gallus sagen sowohl vor 1400 Jahren als auch heute.