Den Nullpunkt gibt es nicht
Im Juni 2012 entschied das Kölner Landgericht in einem Grundsatzurteil, dass die Beschneidung eines kleinen Jungen strafbar sei. Der Philosoph Robert Spaemann kritisiert das Urteil, das aus seiner Sicht weniger die relativ harmlose Körperverletzung des Kindes im Blick habe, als vielmehr die durch die Beschneidung vermeintlich präjudizierte religiöse Selbstbestimmung. In Die Zeit, Nr. 46, 5. Juli 2012, kommentiert er gegen diesen (unausgesprochenen) Vorwurf der Fremdbestimmung:
„Hinter der Ablehnung religiöser Prägung in der Kindheit steht der Gedanke der Schicksalslosigkeit als Lebensqualität. Man kann in westlichen Ländern eine religiöse Gemeinschaft verlassen, aber die Freiheit besteht nicht darin, von einem Nullpunkt aus optieren zu können. Niemand kann seine Vergangenheit abschaffen, man hat sie so oder so, und man muss mit ihr so oder so umgehen. ,,Frag nicht", so schreibt Bertolt Brecht, „'Was hat man aus mir gemacht?' Frage: ,Was habe ich gemacht aus dem, was man aus mir gemacht hat?'"
Den Nullpunkt gibt es nicht. Wer Kinder von einem Leben auf dem Hintergrund einer göttlichen Dimension fernhält, der prägt sie atheistisch. Eine Welt ohne Gott, das ist ebenso eine Prägung wie eine Welt mit Gott. Der Gedanke, man müsse Kinder vor "Fremdbestimmung" bewahren, verkennt, dass ohne anfängliche Fremdbestimmung es nie eine Selbstbestimmung geben kann.
Unsere erste Fremdbestimmung ist die Sprache. Sie präformiert unser Denken. Ich kann anstelle meiner Muttersprache später eine andere Sprache wählen. Aber die ursprüngliche Prägung durch die Muttersprache ist irreversibel. Wenn wir warten wollten, bis Kinder imstande sind, die Sprache, die als ihre Muttersprache zur Verfügung steht, zu wählen, dann würde das Kind nie Sprache lernen und deshalb nie zum Gebrauch der Vernunft und zur Selbstbestimmung gelangen. Die Kinder, die Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen dem Schicksal des Sprachelernens entzog, begannen nicht, wie der Kaiser vermutete, hebräisch zu sprechen. Sie sind stattdessen gestorben."
Eingesandt von Hans Schmid, Herzogenaurach
Quelle: unterwegs 3/2012 (Mitgliederzeitschrift des Deutschen Katecheten-Vereins DKVwww.katecheten-verein.de