Liebe Schwestern und Brüder in Christus
Seit einigen Jahren werden die tiefen Wunden sichtbar, welche durch zahlreiche Übergriffe den meist jungen Menschen zugefügt wurden, die unschuldig zu Opfern wurden. Jede und jeder Einzelne ist eine oder einer zu viel. Das alles ist nicht neu und dennoch macht mich das Ausmass und die Grausamkeit sprachlos. Die Täter haben ihren kirchlichen Auftrag missbraucht und Abhängigkeiten ausgenutzt. Undurchschaubare Strukturen und irregeleitete Rücksicht auf den Ruf der Kirche machten es möglich, die Verbrechen zu vertuschen, das Leid der Opfer zu verdrängen und damit noch zu vergrössern.
Deshalb drücke ich es ganz deutlich aus: Nicht die Aufklärung verletzt die Menschen und spaltet die Kirche, sondern die Verbrechen der sexuellen Gewalt und ihre Vertuschung. Meine Anteilnahme und mein Gebet gilt in erster Linie allen, die an Leib und Seele geschädigt und verletzt wurden.
Wenn Menschen in dieser Situation ihr Vertrauen in die Kirche verlieren und sie verlassen, muss ich das akzeptieren. In den letzten Monaten wird mir in Gesprächen und Begegnungen aber auch immer klarer, wie viele die tiefe Beschämung und Erschütterung mit mir teilen, weil sie die Kirche lieben und in ihr Heimat gefunden haben. Sie möchten die Kirche nicht verlassen, sondern alles tun, um sie zu einer Gemeinschaft zu machen, in der Menschen Nähe und Zuneigung erleben, wo sie Gehör finden und mit anderen im Glauben unterwegs sind.
Mein Mitgefühl richtet sich deshalb auch an alle jene, die selber zwar unschuldig, als Mitglieder unserer Kirche aber mit betroffen sind und unter den notwendigen und trotzdem leidvollen Veröffentlichungen leiden. Mein Dank gilt ihnen für ihre Treue und ihren weiteren Einsatz.
Mir ist sehr bewusst, dass der Schaden, der angerichtet wurde, durch finanzielle Genugtuung und andere Hilfen für die Opfer nur in kleinem Umfang aufgefangen werden kann. Trotzdem ist es mir wichtig, deutliche Akzente zu setzen und alles zu tun, um künftige Verbrechen zu verhindern.
1. Aufklärung ist schmerzhaft, aber notwendig – für die Opfer und für die gesamte Gemeinschaft der Glaubenden. Deshalb bin ich sehr froh, dass in unserem Bistum bereits seit 2002 das «Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe» eingerichtet ist und wertvolle Arbeit leistet. Die Ansprechpersonen haben schon viele Gespräche geführt und teilweise erschütternde Erlebnisse aufgenommen. Mir ist es ein Anliegen, dass alle Menschen in unserem Bistum wissen, an wen sie sich in akuter Not oder mit Fragen und Anliegen wenden können. (www.bistum-stgallen.ch/schutz)
2. Der vielfach geäusserten Forderung nach einem «Perspektivenwechsel» schliesse ich mich aus tiefer Überzeugung an. Nicht die Sorge um den guten Ruf der Kirche und den Schutz der Täter darf an erster Stelle stehen. Die Perspektive der Opfer und der Blick auf ihr Leiden samt Aufarbeitung und Genugtuung muss unser erstes Anliegen sein.
3. Dazu gehört für mich auch die Bereitschaft, über die strukturellen Voraussetzungen dafür zu sprechen, dass gerade in der Kirche Täter so lang geschützt und verborgen werden konnten und Opfer nicht gehört wurden. Der Missbrauch spiritueller Macht und die Möglichkeit der Verheimlichung wegen fehlender Kontrollmechanismen müssen thematisiert und angegangen werden.
4. Schliesslich müssen wir endlich unseren Umgang mit der Sexualität auf den Prüfstand stellen. Viel zu lange haben wir sie nicht wie ein Gottesgeschenk, sondern wie eine Geissel der Menschheit behandelt. Unterdrückung und Missbrauch liegen da ganz eng beieinander. Deshalb sehe ich gerade in der Ausbildung und in der Weiterbildung kirchlicher Berufe grossen Handlungsbedarf.
Liebe Schwestern und Brüder, wenige Worte zu einem grossen, schwierigen und leidvollen Thema. Ihrer Grenzen bin ich mir sehr bewusst. Umso mehr vertraue ich darauf, dass Gott uns den Weg weisen wird, wenn wir bereit sind, auf ihn zu hören.
Im Gebet verbunden grüsse ich Sie herzlich
Ihr Bischof Markus Büchel