«Es ist wunderbar, dass wir hier in die Schutzengelkapelle ausweichen mussten, weil der ursprünglich für die Festakademie vorgesehene Raum zu klein wurde». Dies sagte Bischof Markus Büchel zur Eröffnung der Festakademie am 08. April 2022.
Vor genau 175 Jahren hatte Papst Pius IX. mit seiner Reorganisationsbulle «Instabilis rerum humanarum natura» das Bistum St. Gallen errichtet. Diese Bulle im Original sahen die rund 120 Teilnehmenden bei der wissenschaftlichen Tagung, die den Wendepunkten in der Geschichte der Diözese nachging und nach Perspektiven für die Zukunft fragte.
Wendepunkt 1: Die Gründungszeit
Als ein «Drama in fünf Akten» bezeichnete Sebastian Wetter die Gründung des Bistums St. Gallen. Die Französische Revolution hatte die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa für immer verändert – auch in St.Gallen, was Fürstabt Pankraz Vorster jedoch nicht einsehen wollte. «Der Konvent hatte die Zeichen der Zeit längst erkannt und bestürmte den Abt, einzulenken und wenigstens das Kloster zu retten», so Sebastian Wetter. Aussichtslos. Das Kloster wurde für 3,2 Millionen Gulden liquidiert, 838.000 Gulden gingen an den katholischen Volksteil zum Aufbau neuer kirchlicher Strukturen.
Lange Jahre der Verhandlungen mit Rom und ein kurzlebiges Doppelbistum Chur-St. Gallen folgten. Mehrmals schien die Situation festgefahren, zu gross waren die unterschiedlichen Vorstellungen des Papstes und des Grossen Rates in St. Gallen, vor allem in der Frage, wer bei der Bischofswahl mitreden dürfe. Mit 71 zu 69 Stimmen nahm der Grosse Rat St. Gallen schliesslich adaptierte Vollzugsbestimmungen an. Das Bistum St. Gallen konnte gegründet werden. «Die Feierlichkeiten zur Bischofsweihe von Johann Peter Mirer am 29. Mai 1847 waren ein würdiger, für manche fast schon unerwarteter Abschluss des Dramas um die Errichtung des Bistums St. Gallen», schloss Sebastian Wetter.
Wendepunkt 2: «Die Synode 72 hat die mit ihr verbundenen Erwartungen nicht erfüllt»
Franz Xaver Bischof erinnerte in seinem Beitrag daran, dass sich 2022 die Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zum 60. Mal und die Synode 72 zum 50. Mal jähren. Letztere sollte die Konzilsbeschlüsse für die Schweiz umsetzen und weiterentwickeln. «Der damals eingeschlagene Weg der Erneuerung hat seither nichts an Aktualität und Dringlichkeit eingebüsst», so der Kirchenhistoriker, der auch im Synodalen Weg der Kirche in Deutschland mitarbeitet. Die St. Galler Synode 72 tagte «in bemerkenswerter Offenheit und Aufgeschlossenheit und liess die 120 Synodalen die Erfahrung einer lebendigen Ortskirche machen», sagte er.
Ernüchternd war jedoch die Auswirkung der Synode. Stellungnahmen, welche die Schweizer Bischöfe an den Papst geleitet hatten, lehnten der Papst und die römische Kurie ab. «Die Synode hat die mit ihr verbundenen Erwartungen nicht erfüllt. Das Echo in den Pfarreien blieb zurückhaltend», so Franz Xaver Bischof. Er plädierte dennoch dafür, die Ergebnisse der Synode nicht klein zu reden und verwies auf Papst Franziskus, der das konziliare aggiornamento wieder aufgegriffen und das synodale Interesse in der Kirche neu geweckt habe.
Wendepunkt 3: Die letzten 25 Jahre
Arnd Bünker: «Kirche als Agentur des Christlichen»
Zentrale Trends des letzten Vierteljahrhunderts beschrieb Arnd Bünker, Leiter des SPI am Nachmittag der Festakademie: Säkularisierung, Migration, Polarisation. Alleine in den letzten 10 Jahren hat sich die Zahl der Austritte im Bistum St.Gallen verdoppelt. «In wenigen Jahren werden wir sehen, dass die Konfessionslosen zur grössten Religionsgruppe der Schweiz aufgestiegen sind. Dann werden die beiden grossen Kirchen zusammen weniger als die Hälfte der Bevölkerung in der Schweiz repräsentieren».
Die kleinräumige Seelsorgestruktur mit Pfarreien und Kirchgemeinden sei immer weniger geeignet, den vielfältigen Erwartungen der Menschen gerecht zu werden. Eine logische Konsequenz sei daher die Einführung von Seelsorgeeinheiten im Bistum St. Gallen gewesen, ebenso «wie die vorsichtige Abkehr vom territorialen Prinzip der ‘pfarreilichen Versorgung’ hin zu einer ‘Lebensraum-orientierten Seelsorge’, sowie der Ausbau regionalisierter Angebote. Die Entkoppelung zwischen Kirche und kultureller Identität werde durch die migrantische Prägung der Kirche verstärkt. «Jede zweite Ehe, die in der Schweiz geschlossen wird, hat mindestens eine ausländische Person», so Bünker.
Sein Fazit: «Mit einer uniformen Kirche können wir der vielfältigen Gesellschaft nicht mehr begegnen». Der Pfarreigottesdienst «für alle» spreche de facto nur mehr die wenigsten an. Stattdessen schlug Arnd Bünker das Konzept einer «Kirche als Agentur des Christlichen» vor, welche unterschiedlichste Angebote ermögliche, vermittle und Konflikte aushalte. Die gegenwärtigen Polarisierungen in der Kirche sind kaum zu umgehen. «Es geht darum, diese Polarisierungen als Kraftfeld zu nutzen, nicht als Anlass, ängstlich den Strom abzustellen», so Bünker.
Eva-Maria Faber: «Man kann Menschen nicht verbieten, Kirche zu sein»
Eva-Maria Faber bedauerte, dass die Fragen der Synode 72 in Bezug auf die Ordination nicht beantwortet wurden, denn: «Es hat Seelsorgenden nicht gut getan, sich an dieser Blockade aufreiben zu müssen». In ihrem Beitrag zeigte die Dogmatikerin und Prorektorin der Theologischen Hochschule Chur auf, wie sich die Seelsorge in den vergangenen 25 Jahren im Bistum St. Gallen spezialisiert und ausdifferenziert habe und berücksichtigte dabei Vorzüge und Schattenseiten der verschiedenen Ämter wie Religionspädagogen, Seelsorgerinnen, ständige Diakone und Priester.
Was, wenn es nicht mehr möglich ist, in allen 33 Seelsorgeeinheiten des Bistums St.Gallens priesterliche Dienste anzubieten? «Wir dürfen Kirche nicht nach der verfügbaren Zahl der Amtsträger gestalten», antwortete Eva-Maria Faber. «Man kann Menschen nicht verbieten, Kirche zu sein».
Die primäre Aufgabe von Kirche sei es nicht, Menschen in pfarreiliches Leben zu führen, sondern sie für ihre Aufgaben zu stärken, resümierte Faber. Der «Heilsdienst an der Welt» sei «angesichts der Bedrohung unseres Planeten besonders wichtig». Sie wünschte den 400 Seelsorgenden, die im Jahr 2022 im Bistum St.Gallen in kirchlichen Ämtern stünden, alles Gute dafür.
Franz Kreissl: «Gott mutet uns Vielfalt zu!»
Franz Kreissl referierte über die Herausforderungen der Seelsorge im 21. Jahrhundert. Das Ziel und die Vision sei es, «Kirche des 2. Vatikanischen Konzils zu werden», so der Leiter des Pastoralamtes im Bistum St. Gallen. Die Realität sehe jedoch ganz anders aus. Daher brauche es einen Perspektivenwechsel: «Wir müssen aufhören, Kirche und Glaube identisch zu setzen». Das Ziel des kirchlichen Handelns sei nicht ihr Erhalt, sondern die Verkündigung des Evangeliums und seine Umsetzung. Sakramente seien nicht dazu da, um die Kirche zu erhalten, sondern «Geschenk Gottes». Indem die Ermächtigung und Partizipation der Getauften gefördert werde, könne Klerikalismus überwunden werden. Es gelte, die biblische Vielfalt als Grundlage der Seelsorge wiederzuentdecken. «Gott mutet uns Vielfalt zu!», so Franz Kreissl, der sich für innerkatholische Ökumene und gegen Spaltung, Ausgrenzung und Abwertung aussprach. Schliesslich sei es wichtig, in der Seelsorge Kontrolle durch Gastfreundschaft und Ansprechbarkeit zu ersetzen. «Würden wir die Erreichbarkeit und Erkennbarkeit nur den Hauptamtlichen überlassen, kämen wir nicht vom Fleck.»
Zauber, Festvesper und Diskussion
Für Feststimmung sorgten künstlerische Unterbrechungen von Seelsorger und Zauberspieler Klaus Gremmiger, eine feierliche Festvesper im Chorraum der Kathedrale sowie eine Podiumsdiskussion zur Zukunft des Bistums, moderiert von Norbert Bischofberger. «Ich freue mich, dass die Festakademie auf so viel positives Echo gestossen ist und der Mix aus wissenschaftlichen Vorträgen, inhaltlichen Diskussionen, auflockernder Verzauberung und natürlich auch der Austausch beim gemeinsamen Essen und Trinken bei den Teilnehmenden so gut ankam», sagte Mitorganisator Franz Xaver Bischof.
Im Anschluss an die Festakademie waren die Gäste zu einem Apéro Riche in den Dekanatsflügel vor der Bischöflichen Kanzlei geladen.
Weitere Links zur Festakademie
Bericht auf kath.ch: Schutzengelkapelle als Atrium: St. Galler feiern den Geburtstag ihres Bistums – kath.ch
Podiumsdiskussion auf Radio Maria
Junge Theologin beim Bistumsjubiläum: Für mich ist die Zukunft der Kirche selbstbewusst
Sämtliche Impuls-Referate erscheinen im diesjährigen Band der Zeitschrift für Schweizerische Religions- und Kulturgeschichte.