Fünfzig Jahre nach Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils veröffentlichte Abt Martin Werlen von Einsiedeln die Schrift „Miteinander die Glut unter der Asche entdecken“. Er stellt fest: „Die Situation der Kirche ist dramatisch.“ „Es fehlt das Feuer!“. Es ist erfreulich, dass sein Aufruf nicht nur zur Kenntnis genommen wird, sondern viele Menschen zum Nachdenken bewegt.
Manche Zeitgenossen betrachten jede kirchenkritische Äusserung als Beweis für ihre Meinung, mit der Kirche sei nichts mehr anzufangen, sie werde in absehbarer Zukunft vom Erdboden oder wenigstens aus verschiedenen Ländern verschwunden sein. Für andere ist jede kritische Stellungnahme ein unerlaubter Angriff auf die Kirche.
Ich teile die Hoffnung von Abt Martin Werlen, dass viele Mitmenschen von heute nicht einfach resignieren, sondern in sich gehen und sich für die Zukunft der Kirche mit gläubigem Vertrauen und seriösem Denken einsetzen.
Ich denke manchmal zurück an die Dreissigerjahre, die Zeit meiner Erstkommunion. Fast jeden Morgen diente ich um 6 oder 7 Uhr als Ministrant in der Messe. Der tägliche Besuch der Heiligen Messe war für meine Mutter selbstverständlich. Ich denke gern an diese Jahre zurück. Nostalgisch frage ich mich manchmal, ob es nicht heute oder morgen wieder so sein könnte. Dann überlege ich mir: Mein Vater ist 1934 gestorben. Käme er heute, 2012, zurück, würde er sich überhaupt nicht mehr auskennen, sondern sich wie in einer anderen Welt vorkommen.
Auch meine Welt ist nicht mehr die Welt meiner Kinderjahre. Die Kirche lebt in einer anderen, heutigen Welt. Retten wir die Kirche, wenn wir meinen, nur was wir aus der Vergangenheit retten habe Zukunft? Jesus hat gesagt „Seid gewiss: ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt. 28,20). Christus war bei seiner Kirche nicht nur bis zur der Zeit als ich glücklicher Ministrant war, er ist es auch heute und wird es auch morgen sein. Das glaube ich und das habe ich stets erfahren.
Als Jugendlicher begann ich mich zu fragen, ob das gewohnte kirchliche Leben tatsächlich hilfreich und sinnvoll sei. Ich lernte Theologen wie Karl Rahner kennen, die unsere Fragen ernst nahmen und versuchten, die Frohe Botschaft den Menschen der Fünfzigerjahre zugänglich zu machen. Tiefglaubende Menschen und grosse Denker stellten sich den Problemen von damals. Sie entwickelten Theorien und machten Vorschläge, welche der allgemeinen Meinung in dieser Zeit widersprachen. Sie wurden von päpstlichen Behörden sogar mit Verboten zu lehren und zu schreiben belegt. Im II. Vatikanischen Konzil waren sich die Bischöfe ihrer Verantwortung für die Zukunft bewusst. Sie vertrauten auf das Wirken des Heiligen Geistes und nahmen viel vom Glaubensleben und Denken auf. Ich erlebte eine neue Glaubensfreude. Mit grosser Begeisterung habe ich mich im Anschluss an das Konzil in der Synode 72 eingesetzt.
Die Aufbruchstimmung der Sechziger- und Siebzigerjahre ist unterdessen weithin verflogen. Für manche unserer Zeitgenossen ist Kirche kein Thema mehr. Andere sind enttäuscht, weil sie spüren, wie manche Anliegen von Mitchristen und Gliedern der Hierarchie nicht ernst genommen, abgewiesen oder gar nicht erst diskutiert werden.
Im Vertrauen auf das Wirken des Heiligen Geistes müssen wir versuchen, hoffend die Probleme anzugehen, die uns heute bedrängen. Wir stehen vor einem ähnlichen Problemstau wie vor dem II. Vatikanischen Konzil. Wer aus der Erfahrung lernt, bemüht sich, ohne jedes Tabu den Menschen der kommenden Generationen zugänglich zu machen, dass Jesus sie liebt. Zu dieser Offenheit ruft Abt Martin Werlen auf. Wohl unserer Kirche, wenn es uns gelingt, nicht in Feindbildern, sondern lernbegierig einander zu begegnen.
Ich hoffe, dass dieses offene Gespräch dazu führen wird, die Kirche der Zukunft zu gestalten, in der die Glieder des Volkes Gottes ihre Verantwortung wahrnehmen. Vermehrt sollen Fragen in den Bistümern, in den einzelnen Ländern und Kontinenten entschieden werden können, das wäre mir ein grosses Anliegen. In der Weltkirche muss vieles weniger zentral geregelt sein als das heute der Fall ist. So wird ermöglicht, dass Diskussionen zu wichtigen Themen tatsächlich zu pastoralen Entscheidungen führen.
+ Ivo Fürer
em. Bischof von St. Gallen