Im thüringischen Glasbläser-Dorf Lauscha wurde vor 170 Jahren die Christbaumkugel erfunden. Die Legende erzählt, dass ein armer Glasbläser zu wenig Geld hatte, um seinen Weihnachtsbaum mit Äpfeln und Walnüssen, eingewickelt in Gold- oder Silberfolie zu schmücken. Von da an seien die ersten silberglänzenden Christbaumkugeln in Thüringen hergestellt und verkauft worden, sagt man.
Eigentlich ist die Christbaumkugel ein gebogener Spiegel. Dicht vor der Kugel sitzend, sieht man darin alles: Den ganzen Baum von oben bis unten, die Kerzen, die Stube und natürlich sich selbst. Wegen der gewölbten Oberfläche ist alles verzerrt, das, was im Mittelpunkt ist, erscheint überdimensional gross, Dinge am Rande sind verschwindend klein.
Ist das nicht bei Weihnachten auch so, dass sich die Dimensionen im Vergleich zum normalen Leben verschieben – und ganz besonders in diesem Jahr? Dinge im Zentrum werden plötzlich ganz gross, die Geschenke, das Festessen. Der gemeinsame Besuch der Christmette ist aufgrund der Platzbeschränkungen in Frage gestellt. Wenn wir den Mittelpunkt ein wenig verschieben ändert sich die Perspektive auf das Wesentliche dieses Festes. Gott ist an Weihnachten Mensch geworden, er möchte den Menschen nahe sein in Gestalt eines hilflosen Kindes. Deshalb gilt Weihnachten als Fest der Liebe und der Versöhnung. Durch die Geburt Jesu ist die Nacht zu einer heiligen, geweihten Nacht - der "Weih-nacht" - geworden. Das ist eine gewaltige Botschaft der Hoffnung, ein Grund zu feiern - jetzt erst recht.
Auch wenn in diesem Corona-Jahr vieles ausfällt und abgesagt wird, gibt es trotzdem schöne Möglichkeiten Weihnachten zu feiern, beim gemeinsamen Singen von Weihnachtsliedern daheim, beim Lesen der Weihnachtsgeschichte und mit dem Schenken von Zeit für jene, die dieses Jahr coronabedingt alleine daheim sind, weil sie aus Sicherheitsgründen ihre Familien nicht besuchen können. Ein Telefongespräch mit der betagten Tante, eine persönliche Weihnachtskarte an die Nachbarn, ein Gruss auf den Balkon im Altersheim, eine Begegnung über Zoom oder Skype mit Enkelinnen und Enkeln.
Die Christbaumkugel ist zerbrechlich - trotz oder gerade wegen ihrer Schönheit. Hauchdünn ist ihre Glasschicht, ein halber Millimeter nur. Schon ein unachtsamer Handgriff verwandelt das Kunstwerk in einen Scherbenhaufen. Diese Zerbrechlichkeit zeigt sich an Weihnachten 2020 durch den Schmerz vieler Menschen, die nicht zusammen feiern können. Und durch die Trauer derer, die im vergangenen Jahr liebe Menschen verloren haben, durch Corona, andere Krankheiten oder Unfälle. Wir sind aufgefordert, Sorge zu tragen zueinander an diesen Feiertagen. Nicht selten sind Familienfeiern Anlässe von Konflikten und Verletzungen. In diesem Jahr müssen wir zudem auf Gewohntes verzichten, das löst Stress aus. Viele Menschen sind angespannt und sorgen sich um ihre Gesundheit und ihre Zukunft. Weihnachten ist 2020 ganz besonders zerbrechlich!
Zerbrechlich wirkt auch die Botschaft von Jesus Christus: Als kleines, hilfloses Kind wird er geboren. Nur knapp entkommt er seinen Verfolgern, die König Herodes beauftragt hat. Als Erwachsener findet er viele Anhänger, aber die Mehrzahl der Menschen nehmen ihn nicht wahr oder nicht ernst. Im Garten Gethsemane, bei seiner Verhaftung, letztlich am Kreuz wird die Zerbrechlichkeit dieses Gottessohnes unübersehbar.
Genauso ist es mit Weihnachten und unserem Glauben. Beide sind nicht unerschütterlich, kennen offene Fragen und Zweifel. Da ist es gut, wenn wir mit Weihnachten und unserem Glauben – gerade auch in diesem Jahr – so umgehen wie mit einer Christbaumkugel: vorsichtig, behutsam, im Wissen um ihre tiefe Schönheit und ihren Wert. Wir lassen uns auch im Corona-Jahr die Freude an diesem Fest nicht nehmen. Wir werden anders feiern, doch es wird «trotzdem Licht», Weihnachten findet statt.
Mit Ihnen verbunden wünschen wir ein besinnliches, frohes und gesegnetes Weihnachtsfest. Bleiben Sie gesund!
Bischof Markus Büchel und Pfarrer Martin Schmidt, Präsident evangelisch-reformierter Kirchenrat Kanton St.Gallen