Sehr selten überreicht der Bischof von St. Gallen besonderen Persönlichkeiten eine Bistums-Medaille, scherzhaft „Bistums-Orden“ genannt. Kürzlich war es wieder einmal soweit.
Eine der berühmtesten Frauen der Welt, Hillary Clinton, hat diese Medaille schon mit ins Weisse Haus genommen, Dr. Urs Cavelti, ehemaliger Präsident des Administrationsrates, gehörte zu den Geehrten. Kürzlich gesellte sich eine viel unauffälligere, aber ungemein einsatzfreudige und muntere Frau zum erlauchten Kreis: Marlis Widmer aus Herisau.
Der Diözesanbischof hatte sie vor bald 60 Jahren als Vikar in Herisau kennengelernt. Damals war Marlis Widmer engagierte Leiterin in der Jungfrauen-Kongregation. Von da an reihte sich bis im Juni dieses Jahres Aufgabe an Aufgabe im Dienst der katholischen Kirche im Bistum St. Gallen und in der Schweiz. Freiwillig - aus freiem Willen und mit gewaltigem Einsatz - hat Marlis Widmer all ihre Ämter angepackt. Sie war unter anderem Kirchenverwaltungsrats-Präsidentin, Pfarreirats-Delgierte, Bibelgruppen-Leiterin, Präsidentin des Zentralrats Verband römisch-katholischer Kirchgemeinden des Kantons Appenzell Ausserrhoden, Delegierte im Verband der römisch-katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und Präsidentin der RKZ-Medienkommission. Hartnäckig verteidigte sie überall ihre Anliegen. In der Medienkommission scheute sie sich beispielsweise nicht, dem Generalvikar eines anderen Bistums einmal ganz gehörig die Meinung zu sagen. Der Medienbereich beschäftigte Marlis Widmer zusätzlich in der Medienkommission des Fastenopfers oder im Vorstand der Kipa (Katholische internationale Presseagentur) in Fribourg. Selber schreibend hat sie ihr letztes Amt für das Bistum St. Gallen erfüllt. Von 1989 bis im Juni dieses Jahres war die Herisauerin mit der Materie bestens vertraute Protokollführerin im Seelsorgerat des Bistums St. Gallen.
Freiwilligenarbeit in der katholischen Kirche bedeutete bis vor wenigen Jahrzehnten, sich in einer total von Männern dominierten Welt zu bewegen. „Ich habe mich darin immer akzeptiert gefühlt“, sagt die Herisauerin. Nur einmal haderte Marlis Widmer ernsthaft damit, nicht als Mann geboren zu sein. Nach dem Abendgymnasium hätte sie sehr gerne Theologie studiert. Das war damals, in den 50er Jahren, noch unmöglich. Schliesslich wurde sie Sekundarlehrerin. Von 1955 bis 1989 unterrichtete Marlis Widmer an der „Meitle-Flade“ in St. Gallen, ab 1973 als Schulleiterin. Sie freute sich in den siebzigern sehr darüber, dass „ihre“ Mädchen jetzt Ministrantinnen werden durften. Ihr selbst war dies noch verwehrt geblieben. Aus der Flade-Zeit erzählt die eher klein gewachsene Frau eine lustige Episode: Eines Tages stand sie nach Unterrichtsbeginn noch vor einem Schulzimmer. Ein neu zugegzogenes Mädchen sah sie und fragte: „Hesch müese use, hesch gschwätzt...?“.
In 77 Jahren gibt es viele Veränderungen. In der katholischen Kirche bedeuteten das II. Vatikanum Ende der 70-er Jahre und die Synode 72 in der Schweiz den Beginn einer gewaltigen Aufbruchstimmung. Die Priester wandten sich nun während der Eucharistiefeier dem Volk zu, Deutsch wurde zur Liturgie-Sprache. Letzteres nahm Marlis Widmer zwar mit kleinem Bedauern, aber auch mit grossem Verständnis an. „Ich mag die lateinische Sprache sehr, aber wichtiger ist es, dass alle Menschen die Worte im Gottesdienst verstehen.“ Froh war Marlis Widmer über den Wechsel von der Mund- zur Handkommunion. „Hüt han i s’letscht Mol s’Muul ufgsperrt“, sagte sie sich eines Tages nach dem Gottesdienst. Eben hatte Pfarrer Müller in Herisau diese weitere grosse Veränderung angekündigt.
Aufgewachsen in einer Diaspora-Pfarrei freute sich die Herisauerin darüber, dass ab dem Jahr 1961 die katholische Kirche im Kanton anerkannt und im Verband römisch-katholischer Kirchgemeinden organisiert war. Von da an ging es den Pfarreien im Kanton finanziell viel besser. Noch mehr als Geld bedeutete Marlis Widmer aber das Näherkommen der Konfessionen. Ökumene versteht sie aber nicht allein als Zusammenrücken mit den reformierten Mitchristen, sondern auch innerkatholisch. „Ich habe mich immer bemüht allen katholischen Gruppierungen, seien sie auch noch so extrem, offen zu begegnen“, betont sie.
Vor 20 Jahren traf Marlis Widmer in Einsiedeln Papst Johannes-Paul II., das Oberhaupt der katholischen Weltkirche. Anlässlich des Besuches vor zwei Monaten war die Seniorin wie damals von ihm beeindruckt. „Ich sah einen alten, kranken Mann der auf eindrückliche Weise Zeugnis dafür gab, dass nicht nur Jugend, Gesundheit und Schönheit zählen“. Der Papst habe Grosses für die Weltkirche geleistet. Marlis Widmer würde ihm aber, hätte sie die Möglichkeit dazu, Veränderungen vorschlagen. Ein grosser Wunsch wäre, den einzelnen Bischofskonferenzen mehr Eigenständigkeit zu geben. Dies zu erreichen sei im Moment dringlicher als die Frauenordination oder die Aufhebung des Pflichtzölibats, meint sie. Alles andere würde sich dann entwickeln, je nach Situation, je nach Kontinent oder Land.
In all den Jahren der Freiwilligenarbeit verpasste Marlis Widmer nur eine einzige Sitzung und zwar im Seelsorgerat. Es war im Jahr nach ihrer Pensionierung. Damals ging sie von Februar bis Mai auf Weltreise. „Ich wollte selber merken, dass die Welt rund ist“, sagt die Rentnerin lachend.
Das selber denken hat sich die kleine Frau mit dem grossen Einsatz eben nie nehmen lassen.